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Sintschenko V.V.

Doktor der Philosophienwissenschaften, Ukraine

 

WELTGESELLSCHAFT: POSTIMPERIALISMUS UND DIE AUFTEILUNG DER WELT

 

Imperialismus/postmperialismus und internationale kapitalistische Konkurrenz um die Aufteilung der Welt, militärisch-industrieller Komplex und Flottenbewegung, koloniale Ansprüche       und    kulturelle Überlegenheitspropaganda konnten nicht ohne Folgen für das gesellschaftliche Bewußtsein des Kapitalismus an der Schwelle zum bleiben. In einer eigentümlichen Mischung aus Angst vor der Weltmarktkonkurrenz und dem bedrohlichen Fremden, nationalistischem Triumphalismus und kulturellem Messianismus braute sich in der gesamten kapitalistischen Welt eine aggressive neue Wahnideologie zusammen. Hatte schon der früheste Liberalismus seit Hobbes die sozialen Beziehungen ideologisch «naturalisiert» und seit Adam Smith als die mechanistische Pseudo-Physik der Marktmaschine dargestellt, und hatte Malthus mit seinem «Bevölkerungsgesetz» den Schritt zur Biologisierung der Krise vollzogen, so brüteten die Hirne der imperialen Konkurrenz nun eine weit darüber hinausgehende, umfassende biologistische Weltanschauung zus.

Das liberale Programm einer Naturalisierung des Sozialen wurde dabei aus einer eher metaphorischen in eine buchstäbliche Bedeutung gehoben, die das gesamte System menschlicher Kultur und Gesellschaft als einen unmittelbaren Bestandteil der (selber wieder ideologisierten) Biologie definierte und eine ungeheure Resonanzschwingung im Massenbewußtsein erzeugen sollte. Dieser Biologis- mus, der bis heute nicht allein nachwirkt, sondern immer neu aus den Konkurrenzverhältnissen hervorquillt, hat das moderne Denken entscheidend geprägt und für immer dessen zutiefst irrationale, sozialpathologische Potenz enthüllt.

Zum Schrittmacher des neuen Biologismus wurde keineswegs unfreiwillig einer der größten modernen Naturwissenschaftler, der kaum weniger als Newton das Weltbild umgestürzt hat. Es war der britische Landadelige und gescheiterte Priesteramtskandidat Charles Darwin (1809-1882), der die mechanistische Sicht der physikalischen Welt und der menschlichen Gesellschaft durch eine biologistische Welterklärung ergänzt und erweitert hat. Dabei geschah etwas, das typisch und symptomatisch ist für die moderne Naturwissenschaft überhaupt: Eine wirkliche große Entdeckung verschmolz vollständig mit einem irrationalen ideologischen Impuls und unreflektierten Interessen des kapitalistischen Fetisch-Systems, um sich schließlich mit einer enormen Zerstörungskraft aufzuladen.

Darwins Familie waren wohlhabende «Whigs», Liberale der schlimmsten Sorte und gleichzeitig naturwissenschaftlich interessiert, wie seine Biografen belegen (Desmond/Moore, 1995); schon Darwins Großvater Erasmus, ein Arzt, Dichter und Tüftler, der unter anderem eine Sprechmaschine konstruierte, die das Vaterunser und die Zehn Gebote aufsagen konnte, hatte Ende des 18. Jahrhunderts über eine mögliche Veränderung der Arten und eine «Abstammungslehre» spekuliert, die auszuarbeiten seinem Enkel vorbehalten blieb – dem er immerhin ein einschlägiges «freigeistiges» Credo in Versen hinterließ:

Erzeugt ohne Eltern, entsteht von allein

Im Nebel der Vorzeit organisches Sein.

Es ist heute kaum vorstellbar, daß noch bis in die erste Hälfte 19. Jahrhunderts, mitten in einer Epoche  der  Industrialisierung  und  der  Blüte  kapitalistischer  Naturwissenschaften,  erst  schwache Ansätze für das Verständnis einer wirklichen Naturgeschichte existierten (vor Kant meinte dieser Begriff nur den allgemeinen Zusammenhang der Naturerscheinungen, keine Entwicklungsgeschichte im fortlaufenden Sinne). Selbst noch Hegel kam ein solcher Gedanke absonderlich vor. Trotz «Aufklärung», Naturerkenntnis und Technologie des Kapitals wurde in diesem Punkt die Bibel von großen Teilen der offiziellen Gesellschaft nach wie vor bierernst wörtlich genommen. So galt es nicht nur bei Ungebildeten als selbstverständlich, daß Gott vor ungefähr sechstausend Jahren die natürliche Welt samt allen Tier- und Pflanzenarten als unveränderliches Ensemble geschaffen habe, auch wenn sich die Naturwissenschaft weitgehend schon eines viel größeren Zeitraums erdgeschichtlicher Vergangenheit bewußt war. Auch der Gedanke der biologischen Evolution keimte bereits seit geraumer Zeit, so bei dem französischen Naturforscher Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829), der die Unveränderlichkeit der Arten angezweifelt hatte, ohne diese Lehre jedoch ausarbeiten und ihr zum Durchbruch verhelfen zu können. Darwin sammelte auf einer Weltreise, die er von 1832 bis 1837 als finanziell unabhängiger wissenschaftlicher Begleiter an Bord des britischen For- schungs-  und  Vermessungsschiffs  «Beagle»  unternahm,  nicht  nur  zahlreiche  Präparate  und Fossilien, sondern entwickelte in seinen Notizbüchern auch die Grundgedanken der «Abstam-mungslehre», die er erst Jahrzehnte später, gedrängt von Freunden, veröffentlichen sollte. Erst 1859, gewissermaßen pünktlich zum Beginn der neuen imperialistischen Runde, erschien sein Werk «Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl». 1871 folgte, wiederum nach langem Zögern, die Anwendung und Erweiterung seiner Lehre auf die menschliche Herkunft aus dem Tier- reich: «Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl».

Es hatte natürlich seinen Grund, daß Darwin so lange zögerte, zagte und zweifelte, bevor er sich mit seiner wissenschaftlich untermauerten Evolutionstheorie an die Öffentlichkeit wagte. Denn die Beweise für eine langdauernde Entwicklung und Veränderung der Arten mußten die christlichen Kirchen, die immer noch eine Macht darstellten, kaum weniger herausfordern als einst die Entdekkungen von Kopernikus und Galilei am Firmament. Mit der Abstammungslehre wurde der letzte tragende Stein aus dem Gebäude der orthodoxen, wörtlichen Bibelauslegung herausgeschlagen; war die «Krone der Schöpfung» zuerst unter schweren ideologischen Friktionen aus dem Zentrum des Universums in eine galaktische Provinz verbannt worden, so entfiel nun auch die unmittelbare Gottebenbildlichkeit unter dem Verdikt, «kopflose, zwittrige Mollusken seien die Vorfahren der Menschheit» (Desmond/Moore, 1995, 9). Noch schlimmer war die in der jüngeren Evolutionsgeschichte zu konstatierende enge Verwandtschaft mit den Primaten, die zu der volkstümlichen Vulgarisierung von Darwins Theorie führte, daß «der Mensch vom Affen abstammt». Kaum weniger einschneidend als die Entdeckung der biologischen Naturgeschichte durch Darwin und seine Vorläufer stellte sich die nahezu gleichzeitige, erst jüngst in ihrer Bedeutung genauer reflektierte Revolutionierung des geologischen Weltbilds und die damit verbundene «Entdeckung der Tiefenzeit» (Gould,1990) von unermeßlichen Epochen der Erdgeschichte dar. Mußte die biologische Naturgeschichte der Arten nach Jahrmillionen gezählt werden, so dehnte sich die geologische Naturgeschichte auf unvorstellbare Jahrmilliarden aus. Die menschliche Geschichte schrumpfte zu einer winzigen Marginalie der planetarischen Entwicklung und die Erzählung der Genesis in der

«Heiligen Schrift», zumindest in ihrem wörtlichen Verständnis, auf den Status eines Kindermärchens. Während aber die geologische «Tiefenzeit» und ihre Konsequenzen in der breiten Öffentlichkeit weniger beachtet wurden, rief Darwins Abstammungslehre bei allen rechtgläubigen Stützen von «Thron und Altar» zunächst den erwarteten Sturm der Entrüstung hervor. Es darf nicht vergessen werden, daß die sogenannte Aufklärung die christliche Religion ja keineswegs grundsätzlich negiert und das religiöse Denken aufgehoben, sondern nur den Platz der Religion in der Gesellschaft neu definiert und die Angelegenheiten von Wissenschaft und Ökonomie säkularisiert hatte. Jetzt schien es so, als habe die Naturwissenschaft in Gestalt Darwins und seiner Anhänger gewissermaßen den Waffenstillstand gebrochen und erneut eine Demarkationslinie überschritten. Bis heute ist die orthodoxe christliche Erregung nicht abgeebbt, und die mächtigen USA blamieren sich noch immer durch ihre calvinistischen Fanatiker, die Darwins Evolutionslehre aus dem Schul- unterricht verbannen und durch die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments ersetzen wollen.

Es mochte ein konservatives politisches Denken erzürnen, wenn die Axt an die letzten Wurzeln des religiösen Bewußtseins gelegt wurde; hatte doch die kapitalistische Volkspädagogik mit ihrem Training der disziplinierenden Sekundärtugenden stets an die populäre religiöse Vorstellungswelt appelliert und «das Volk» gerne in einem Zustand naiver Demütigkeit gesehen. Insofern konnten auch die zeitgenössischen liberalkonservativen Eliten angesichts des «Darwinismus» bedenklich gestimmt sein.

Aber andererseits existierte auch seit Aufklärungszeiten ein zunächst minoritäres, jedoch im Zuge der «Vernaturwissenschaftlichung» rasch anwachsendes «freigeistiges» Milieu innerhalb des Liberalismus, dem ja auch schon Darwins Großvater angehört hatte. Man konnte (klammheimlich oder offen) die Religion gar nicht mehr ernst nehmen; vordergründig im Zeichen der erfolgreichen Naturwissenschaften und ihrer «Entzauberung» der Welt. Diese liberale Freigeisterei war jedoch in Wahrheit alles andere als befreiend, weil sie längst an die Stelle des christlichen Gottes die Vergöttlichung der «schönen Maschine», also der mahlenden Weltbewegung des Kapitals und seiner Selbstzweckhaftigkeit gesetzt hatte. Die Befangenheit in diesem säkularisierten quasireligiösen

Bewußtsein erlaubte es nicht, die Involvierung der Naturwissenschaft als «kapitalistische Magie» in diesen irrationalen und destruktiven Zusammenhang zu reflektieren und bewußt zu machen.

Auch die Dissidenten des Liberalismus wie Marx und Engels blieben für diesen Kontext völlig blind. Marx sah am Darwinismus in erster Linie die naturwissenschaftliche Entdeckungsleistung und verehrte Darwin geradezu, dessen »materialistische« Evolutionstheorie der Natur ihm seine eigene »materialistische« Evolutionstheorie der Gesellschaft zu stützen schien. Zwar machte er sich am Rande auch darüber lustig, daß Darwin im Tierreich die zeitgenössische englische Gesellschaft wiedererkannte, aber das schien ihm unbedeutend und tat seiner Begeisterung keinen Abbruch. Nach Erscheinen der zweiten Auflage des «Kapital» (1873) schickte er dem Meister ein Widmungsexemplar, ohne freilich mehr als eine höfliche Zurückweisung zu ernten. Denn Darwin stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden eines orthodoxen Liberalismus und hatte sogar Schuldgefühle wegen seiner lästerlichen naturwissenschaftlichen Ambitionen. Der Konflikt in Darwins Seele spiegelte nur die Tatsache, daß der Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Freigeisterei und konservativ-klerikaler Gesinnung kaum mehr als ein Familienzwist innerhalb des Liberalismus und seiner herrschenden Eliten war.

Die Freigeister wollten entweder die naturwissenschaftliche Scheinaufhebung der Religion für die Eliten reservieren, während »das Volk« aus disziplinarischen Gründen weiterhin mit christlicher Glaubensdemut gefüttert werden sollte; diese Haltung kehrte gewissermaßen die aufklärerische Vorstellung vom «Priesterbetrug» um, wonach die Religion ohnehin nur ein Herrschaftsinstrument in den Händen von in Wahrheit materialistischen Eliten sei. Oder, soweit die Freigeister «das Volk» einbeziehen und naturwissenschaftlichmaterialistisch umschulen wollten, waren sie Demokraten im schlimmsten Sinne dieses Begriffs seit Bentham: Die Ersetzung der Religion durch die Naturwissenschaft sollte die rohe Form einer äußerlichen Gängelung der Massen durch die raffiniertere Form einer massenhaften Selbst-Disziplinierung ablösen, nunmehr nach angeblich «naturwissenschaftlichen» und sogar biologischen Gesetzmäßigkeiten. Nur insofern stellten die Freigeister eine Avantgarde dar, deren Einfluß bis in die liberalen Arbeitervereine reichte.

Diese zwar nicht fröhliche, dafür aber durch und durch närrische und gleichzeitig gemeingefährliche Naturwissenschaft vom gesellschaftlichen Menschen war den Dämonen und Furien des kapitalistischen Konkurrenz-Bewußtseins genügend auf den Leib geschrieben, um leicht mit einer anderen Ausgeburt des daraus systemisch hervorgegangenen Denkens verschmelzen zu können, nämlich mit dem modernen Rassenwahn. Schon die großen Aufklärungsphilosophen mit Kant an der Spitze hatten ja die Menschen Afrikas als die auf der niedrigsten Stufe stehenden «Tiermenschen» definiert. Neun Jahre vor seinem Traktat zur Verherrlichung der Konkurrenz verbreitete sich der Mitbegründer kapitalistischer Vernunft über die «verschiedenen Rassen der Menschen», um da- bei zu dem Schluß zu kommen:

 «Übrigens ist feuchte Wärme dem starken Wuchs der Tiere überhaupt beförderlich, und kurz, es entspringt der Neger, der seinem Klima wohl angemessen, nämlich stark, fleischig, gelenk, aber unter der reichlichen Versorgung seines Mutterlandes faul, weichlich und tändelnd ist» (Kant 1993/XI/1775,23).

Unter dem Aspekt der Kampagne gegen die «Faulheit» zwecks «Verfleißigung» (Industrialisierung) des Menschenmaterials mußten «die Neger» als Negativexempel herhalten; und kein Zweifel: den Herren der «Schönen Maschine» ist es auf der ganzen Linie gelungen, den afrikanischen Bevölkerungen die »reichliche Versorgung ihres Mutterlandes in die künstliche Knappheit kapitalistischer «Vaterländer» auf der untersten Stufe der Weltmarkt-Pyramide zu verwandeln. Daß die Afrikaner aber auch zu gar nichts zu gebrauchen seien und von Natur aus kujoniert werden müßten, wußte Kant schon früh in seiner Abhandlung «Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen» apodiktisch darzulegen: «Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. Herr Hume fordert jedermann auf, ein einziges Beispiel anzuführen, da ein Neger Talente gewiesen habe, und behauptet: daß unter den Hunderttausenden von Schwarzen, die aus ihren Ländern anderwärts verführt werden, obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzt werden, dennoch nicht ein einzi- ger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder irgend einer ändern rühmlichen Eigenschaft etwas Großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich ständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen [...] Die Schwarzen sind sehr eitel, aber auf Negerart,  und  so  plauderhaft,  daß  sie  mit  Prügeln  müssen  auseinander  gejagt  werden»  (Kant.1988/11/1764, 880).

Der Kapitalismus, von Haus aus eine Männerveranstaltung, hatte ja schon immer die Idee einer gewissen Unzuverlässigkeit und gleichzeitigen Inferiorität des weiblichen Menschenmaterials gehegt, das wegen seiner Bereitstellung für die »abgespaltenen«, von der Kapitallogik nicht voll zu erfassenden Bereiche eben auch weniger in den Kriterien der kapitalistischen Weltmaschine aufge- hen konnte. Diese grundsätzlich misogyne Haltung, schon in der Aufklärungsphilosophie präsent und am wüstesten bei de Sade ausformuliert, war sogar die eigentliche Wurzel eines biologistischen Denkens im Kapitalismus; um so üppiger konnte diese auf sozialhistorischen Zuschreibungen beru- hende Abwertung des Weiblichen nun im sozialdarwinistischen Kontext gedeihen.

Darwin selbst war auch in dieser Hinsicht wieder der erste Sozialdarwinist; da das wesentliche Mittel der «geschlechtlichen Zuchtwahl» der «Kampf» sei (eine von Darwin völlig willkürlich gemachte Annahme), der ausschließlich von den «Männchen» ausgetragen werde, würden auch die verbesserten (Kampf)Eigenschaften nur auf die männlichen Nachkommen übertragen, so daß «das Männchen viel häufiger variiert als das Weibchen» (Darwin 1986/1871, 251) und somit der eigentliche Träger der evolutionären «Höherentwicklung» sei; mit Folgen für die Rangstufe der Geschlechter auch beim Menschen.

Ähnliche Verhaltensweisen und Äußerungen lassen sich bei vielen bekannten jüdischen Litera- ten und Theoretikern bis in die Zeit des Hitler-Regimes hinein feststellen; ein bis heute weitgehend verdrängter und unausgewuchteter Tatbestand, obwohl doch gerade ein derart extremes gesell- schaftliches Bewußtseinsphänomen geeignet wäre, den tiefsitzenden Charakter des rassistischen und antisemitischen Syndroms in der Moderne zu erhellen. Aber so genau will es die in ihrem Denken an das warenproduzierende System und seine Kategorien gefesselte liberale, linke und demokratische Intelligenzia offenbar gar nicht wissen, weil sie vor den Konsequenzen der Kritik zurückscheut.

Es handelt sich eben nicht nur um eine Äußerlichkeit, daß sich die rassistischen und antisemitischen Motive bis auf die großen Geister der Aufklärung wie Voltaire, Rousseau, Kant usw. zurückverfolgen lassen (vgl. Poliakov 1983, V). Wenn auch die verschiedenen Anknüpfungspunkte noch viel weiter in die Geschichte zurückreichen, so ist doch der Zusammenhang von Darwinismus, Sozialbiologismus, Rassenwahn und Antisemitismus ein genuines Produkt der Modernisierung; eine notwendige irrationale         Reflexionsfor der Konkurrenz   und    von    einer  bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus an (wie sie ungefähr seit 1870 erreicht war) eine geradezu gesetzmäßig entstehende immanente Erscheinungsform des Massenbewußtseins. Es gehört zur Camouflage der Modernisierungsgeschichte, daß sich auch diese in Aufklärung und Liberalismus wurzelnde biologistische Ideologie ähnlich wie schon der Staatssozialismus dem liberalen »Mutter- bewußtsein« gegenüber in neuen »rechtsradikalen« Strömungen und Parteien verselbständigte, die mit dem alten (adelig-absolutistischen) Konservatismus nichts mehr zu tun hatten und im 20. Jahr- hundert ihren großen Aufstieg erleben sollten.

Soweit also bis heute Konflikte und wechselseitige Schuldzuweisungen zwischen Liberalismus und Rassismus/Antisemitismus auftauchen, handelt es sich um einen Zwist innerhalb eines gemeinsamen Bezugssystems, dessen äußerlich gegensätzliche Reflexionen auch ideologisch auf eine gemeinsame Wurzel zurückgehen. Das System einer dem Anspruch und der historischen Tendenz nach totalen Warenproduktion und Konkurrenz bringt notwendig ein manichäisches Konstrukt von «Gut» und «Böse», von «Freund» und «Feind» hervor, das eben nicht bloß in den abgetrennten

»rechtsradikal«-biologistischen Ablegern zum Ausdruck kommt. Soweit der Liberalismus sich ge- gen das verselbständigte rassistisch-antisemitische Syndrom wendet, kann er dies seinerseits nur durch den Glauben an einen fremden und äußerlichen, aus den Abgründen der Seele aufgestiegenen Atavismus tun: Weil er dieses «Böse» nicht als Fleisch von seinem Fleische wiedererkennen darf, kann er den Irrationalismus selber nur irrational reflektieren.

Die Totalität der materiellen Produktion – als der bedingenden Grundlage aller Prozesse der gesellschaftlichen  Auseinandersetzung in der kapitalistischen  Formationsperiode - ist in letzter Konsequenz nur ein Teil der gesellschaftlichen Totalität. Die Kjassen, die Subjekte der Produktion nehmen nicht nur an der Produktion und am Tausch Anteil. Sie kämpfen auch gegeneinander  um die Macht und um die jeweilige  gesellschaftliche  Struktur,  sie zu erhalten oder sie revolutionär umzuwälzen. Der Produktionsprozeß  schlägt unter bestimmten  Bedingungen in Klassenkampf,  in politische Auseinandersetzung  um, sie durchdringen  sich ununterbrochen  wechselseitig.  Das bewußtgewordene  Proletariat wirkt durch sein politisches Handeln so auch auf die Produktion ein: «Von allen Produktionsinstrumenten ist die größte Produktivkraft die revolutionäre Klasse selbst» (Reichelt Helmut. Neue Marx-Lektüre. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Logik.-Hamburg, 2008. – S.181).

Was sind nun aber für Marx die Bedingungen dafür, daß die revolutionäre Klasse sich zur größten Produktivkraft  entfalten kann? Der «normale»  Gang der kapitalistischen  Produktionsweise  produziert  eine «integrierte»  Arbeiterklasse:

Im Fortgang  der kapitalistischen  Produktion  entwickelt  sich eine Arbeiterklasse,  die aus Erziehung,  Tradition,  Gewohnheit, die Anforderungen jener Produktionsweise als selbstverständliche Naturgesetze anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen Überbevölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit, und daher den Arbeitslohn, in einem den Verwertungsbedürfnissen  des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter. «Außerökonomische,  unmittelbare Gewalt wird zwar noch immer angewandt, aber nur ausnahmsweise. Für den gewöhnlichen Gang der Dinge kann der Arbeiter den Naturgesetzen der Produktion überlassen bleiben, das heißt seiner aus den Produktionsbedingungen  selbst entspringenden, durch sie garantierten und verewigten  Abhängigkeit vom Kapital» (Kockshott Paul W., Kotrell A., Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie.-Köln:PapyRossa Verlag, 2006. – S.71). Allein in der tiefen ökonomischen Krise, als einer Krise der Gesamtgesellschaft,  kann die verinnerlichte und mehr oder minder akzeptierte ökonomische Gewalt des Kapitalverhältnisses  vom Produzenten problematisiert  werden, entsteht die objektive Möglichkeit für die Entstehung eines revolutionären Klassenbewußtseins  auf der Grundlage des politischen Klassenkampfes zwischen Lohnarbeit und Kapital.

Weltkrise des kapitalistischen Systems viralent wurde, galt es für alle revolutionären Parteien innerhalb des damaligen Weltsystems des Kapitalismus - auch diese konkrete Totalität des Welt- markts war noch nicht wirklich weltweit - diese historische Möglichkeit zu aktualisieren,  den kapitalistischen Staat und die ihn bedingende Produktionsweise umzuwälzen, eine sozialistische Welt ohne profitmaximierende  Monopole, ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und ohne Krieg zu erkämpfen.

Diese  Frage  verweist  uns  auf  die  andere  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Ideologie  und  Ökonomie.  Der  sozial-ökonomische Zerfallsprozeß der kapitalistischen Produktionsweise  setzte starke Massenaktionen gegen das kapitalistische System frei. Im «klassischen» Verhältnis von Ökonomie und Ideologie ist die spontane Massenaktion die subjektive Seite des objektiven  ökonomischen  Prozesses. 

Nur so wäre eine für die Zeit der Krise nach dem Weltkrieg historisch-rnaterialistische  Theorie der revolutionären Veränderung möglich geworden. Das unkritische Festhalten an den «bewährten Formeln» der Klassiker degradiert den revolutionären Kampf auf die Stufe der begrifflosen Praxis oder des blinden Aktivismus.

Der Grundwiderspruch für die von Marx analysierte kapitalistische Forma üonsperiode war, daß die gesellschaftlich vermittelte  Produktionsweise  nicht eine gesellschaftliche  Aneignung, sondern eine private, auf der Grundlage der Trennung von Kapital und Lohnarbeit implizierte. Organisation  und Planung im Einzelbetrieb,  Anarchie in der Gesamtgesellschaft.

Dieser Grundwiderspruch  gewinnt im Prozeß der widersprüchlichen  und ungleichmäßigen  Entwicklung des Kapitals mannigfaltige  Formen. Die Tendenz  der schrankenlosen  Entfaltung  der Produktivkräfte  und der beschränkten  Verwertungsbedürfnisse  des Kapitals konstituieren die Grundtendenz des kapitalistischen Grundwiderspruchs in je spezifischer Form.

Der Kapitalismus paßt sich 1. an das je historische quantitative und qualitative Wachstum der Produktivkräfte  an, 2. an den je erreichten Stand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung.

Die rasche Entwicklung  des Kapitalismus  durch beschleunigten  technischen  Fortschritt  und durch Ausdehnung  des kapitalistischen Feldes führten zu einer ungeheuren Steigerung der gesamtgesellschaftlichen  Produktivität.  Ganze neue Industriezweige  entstanden,  schufen  neue  Bedürfnisse  etc.  Der  industrielle  Produktionsprozeß  selbst  unterliegt  seit Taylor und Ford qualitativen Veränderangen (Arbeitszerlegung,  Ökonomisierung als Wissenschaft, Normung, Standardisierung, Marktsicherung,  gesamtgesellschaftliche  Statistik  etc.). An die Stelle der Konkurrenz  der Privaten sind die Marktabsprachen der korporierten Eigentümer getreten. Dahinter liegt die Tendenz der Vergesellschaftung  im Kapitalismus, drückt sich aber auch eine bewußtere Form des gesellschaftlichen  Zusammenhanges der Produzenten aus. Steigende  Mehrwertraten,  absolute  Zunahme  der  beschäftigten  Bevölkerung  lassen  auch  die  Mehrwertmasse  steigen.

Gleichzeitig enthält aber der Liberalismus auch unmittelbar die biologistisch-rassistische Matrix in seinen eigenen Denkformen; eine Schnittmenge mit den rechtsradikalen Strömungen ist bis heute der Sozialdarwinismus in seinen verschiedenen (offenen oder versteckten) Erscheinungsfor- men geblieben. Um die Jahrhundertwende aber war das liberale Bewußtsein sogar voll und ganz von  der  «naturwissenschaftlichen»  biologistisch-rassistischen  und  antisemitischen  Denkweise durchsetzt; die verselbständigten Formen eines neuen, noch unklaren Rechtsradikalismus blieben nur deswegen bis zum Weltkrieg politische Randströmungen, weil die liberalkonservativen Eliten des Imperialismus und ihre Hauptparteien selber auch die Hauptträger der vom Darwinismus aus- gehenden biologischen Konkurrenz- und Selektionsideen waren.

Diesen neuen Industrien stehen in zunehmenden Maße Industrien gegenüber, die kapitalgesättigt  sind, akkumulations- unfähig geworden sind. Der zumeist hohe Anteil des fixen Kapitals macht diese Produktionszweige für die Dauer des Abbauprozesses  stützungsbedürftig.  Der Anstoß  zu etatistischen  Maßnahmen  kommt  gerade  von diesen  bedrohten Produktionszweigen.  Die akkumulationsunfähigen  Wirtschaftszweige  drücken die ökonomischen  Totgewichte  der kapitalistischen Gesellschaft aus, zeigen die objektiven Schranken der Akkumulation an, hemmen andererseits die «ungestörte»  ökonomische  Gesamtentwicklung.   Die  Entfaltnng  einer  immer  höheren  Produktivität  der  Arbeit  auf  der Grundlage des technischen Fortschritts  läßt den Akkumulationsfonds  ständig wachsen. Die begrenzten Verwertungs - möglichkeiten des Kapitals und die nur immer schwerer überwindbaren Schranken der Akkumulation haben notwendigerweise die verschiedensten  Formen der Kapitalvernichtung  zur Folge. Das Wachstum der physischen (Stillegungen, Vorratsvernichtung,  Krieg) und funktionalen  (jede Kapitalausgabe  für unproduktive  Zwecke,  Anwachsen der unproduktiven Staatsausgaben u. a. m.) Kapitalvernichtung  zeigt die «Überfälligkeit» des Systems an. Die ungeheure Steigerung der Jaux frais (toten Kosten) der kapitalistischen  Produktion drückt die Gesamtheit  der Kapitalvernichtung aus. Die Differenz zwischen der technologisch möglichen Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte, der ungeheuren Steigerung  der Produktivität der Arbeit und der faktischen  Steigerung  wird immer größer. Damit auch die Spannung zwischen dein möglichen Lebensstandard bei einer vollen Beseitigung der kapitalistischen Fesseln und dem faktischen Lebensstandard immer mehr vergrößernd. Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung  der Massen  gegenüber  dem Trieb der kapitalistischen  Produktion,  die Produktivkräfte  so zu entwickeln,  als ob nur  die absolute  Konsumtionsfähigkeit  der  Gesellschaft  ihre  Grenze  bilde.