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Sintschenko V.V.

Zentrum der Europäischen Durchforschungen, Ukrainischer humanitärer Institut, Nationaler Zentrum der internationalen Durchforschungen

 

EIN BEITRAG ZUR REKONSTRUKTION DES WISSENSGESELLSCHAF

 

Drei Thesen zur Einleitung

1.Wissen spielt im gesellschaftlichen Produktionsprozess bereits die bei weitem wichtigste Rolle. Es ist die entscheidende Produktivkraft. Es ist dazu bestimmt, sowohl einfache manuelle Arbeit als auch Finanz- und Sachkapital zu subalternen Produktivkräften herabzusetzen.

Die gegenwärtige Entwicklung weist auf eine zukünftig mögliche Wissensgesellschaft hin, ist aber noch weit davon entfernt, deren Möglichkeit zu verwirklichen. Was bereits heute viele für eine Wissensgesellschaft halten, welche die Gesetze der kapitalistischen Ökonomie außer Kraft setzt, ist bloß die provisorische Form eines Kapitalismus, der Wissen als Eigentum privater Firmen behandelt und wie Sachkapital verwertet.

2.Zum Übergang in eine Wissensgesellschaft wird es erst kommen können, wenn die Gesellschaft Wissen nicht als Fachwissen behandelt, sondern als Komponente einer Kultur, in der die Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten und Beziehungen das entscheidende Ziel ist. Es liegt im Wesen von Wissen, ein gesellschaftliches Gemeingut zu sein und im Wesen einer Wissensgesellschaft, sich als Kulturgesellschaft zu verstehen.

3.Wissen gehört zur Kultur, ist in sie eingebettet, wirkt auf sie zurück und umgekehrt. Beide entwickeln sich im universellen Austausch und Verkehr. Eine Wissens- oder Kulturgesellschaft erfordert, dass allen der bedingungslose Zugang zum gesamten Wissen sowie die Teilhabe an den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften gesichert ist. "Wissen ist nicht dazu geeignet, als exklusives Eigentum behandelt zu werden" ("is not susceptible to exclusive property") sagte schon Thomas Jefferson. Der Sinn für und die Pflege von Gemeingut müssen folglich in einer Wissensgesellschaft gegenüber Privateigentum und Warenbeziehungen überwiegen. Ebenso wenig wie Wissen ist die Natur dazu geeignet, zum Zweck ihrer Vergeldlichung privatisiert, instrumentalisiert und vergewaltigt zu werden. Wissen darf nicht auf kognitiv-instrumentelle technowissenschaftliche Kenntnisse reduziert werden.

1. Wissenskapitalismus heute

Wir befinden uns gegenwärtig in einer Übergangsphase, in der mehrere Produktionsweisen koexistieren. Der auf die Verwertung von Sachkapital ausgerichtete Kapitalismus wird mit der schnellen Entwicklung der elektronischen Netzwerktechnologien von einem auf die Verwertung von "Wissenskapital" ausgerichteten. Da Wissensmonopole normalerweise kurzlebig sind, sind Firmen immer bestrebt, ihr Monopol durch den symbolischen Wert ihres Markennamens gegen die Konkurrenz jüngerer Unternehmen zu schützen. Zu diesem Zweck dienen ihre hohen Ausgaben für Marketing und Werbung: über 30% des Umsatzes bei Microsoft, mehr noch in der Modeindustrie. Marketing und Werbung entwickeln sich besonders schnell zu führenden und blühenden Wissensindustrien, die den übrigen Industrien allein die Fähigkeit verkaufen, den Geschmack, die Wünsche, Begierden, Gefühle, Wertvorstellungen usw. so zu konditionieren, dass dem Angebot der Firmen eine Nachfrage entspricht. Die Verbreitung der immatriellen Arbeit enthält folglich ein beträchtliches Emanzipations- aber auch Kontrollpotential, kann aber gegenwärtig (ich komme darauf in Kapitel 10 zurück) nur von einer Minderheit wahrgenommen und in Erscheinung gebracht werden. Um die für den Übergang in eine Wissensgesellschaft nötigen Voraussetzungen zu verstehen, wird es zunächst nützlich sein, die Notizen der Grundrisse (GR) zu erörtern, in denen Marx glaubte, die zukünftige Entwicklung einer Wissens- und Kulturgesellschaft in Aussicht stellen zu können.

2. Der lange Weg zur Wissensgesellschaft: Marx Man findet bereits bei Marx die Einsicht, dass Wissen nicht nur eine unmittelbare Produktivkraft ist, sondern auch bestimmt ist, "die größte Produktivkraft" zu werden. Arbeit in ihrer unmittelbaren Form, Arbeit, die in Arbeitszeit gemessen und als solche entlohnt wird, "muss aufhören, die große Quelle des Reichtums zu sein", schreibt Marx. Und Arbeitszeit wird aufhören müssen, als Maß des geschöpften Reichtums zu dienen (GR, S. 593). Die Schöpfung von Reichtum wird "immer weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit" abhängen und immer mehr abhängen "vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie" (GR, S. 592). "Die unmittelbare Arbeit und ihre Quantität (werden) als das bestimmende Prinzip der Produktion verschwinden" und sie werden "herabgesetzt als ein zwar unentbehrliches aber subalternes Moment (gegenüber der) allgemeinen wissenschaftlichen Arbeit" (GR, S. 587). Der "Produktionsprozess" wird nicht mehr als "Arbeitsprozess " zu begreifen sein. Wie sehr "Wissen" bei Marx mit dem Bildungsniveau und der "allseitigen, freien Entwicklung der Individualitäten" (GR, S. 593) verbunden ist, zeigt sich auch in folgenden Bemerkungen: "Die wirkliche Ökonomie - Ersparung - ist die Ersparung von Arbeitszeit". Diese Ersparung ist "gleich" mit "Vermehren der freien Zeit, d.h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit. Sie kann vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus betrachtet werden als Produktion von capital fixe, dies capital fixe being man himself" (GR, S. 599). "Dass übrigens die unmittelbare Arbeitszeit selbst nicht in dem abstrakten Gegensatz zu der freien Zeit bleiben kann, versteht sich von selbst. Die freie Zeit - die sowohl Mußezeit als Zeit für höhere Tätigkeit ist - hat ihren Besitzer in ein anderes Subjekt verwandelt", nämlich in ein "künstlerisch, wissenschaftlich etc." ausgebildetes (GR, S. 593).

Dieser Verwandlung hat aber der Freizeitkapitalismus sehr effektiv entgegengewirkt.

3. Statt allseitiger Entwicklung Freizeitkapitalismus

Was wir heute als "Wissenskapital" und "Humankapital" bezeichnen, kann man, wie man sieht, bereits bei Marx vorfinden. Er versteht die "Entwicklung der Individualitäten", die durch Arbeitszeitverkürzung zu ermöglichende "allseitige Entfaltung" der menschlichen Fähigkeiten, als eine Investition in die Produktion von Menschen selbst, welche "vom Standpunkt des unmittelbaren Produktionsprozesses aus" mit der Produktion von fixem Humankapital gleichgesetzt werden kann.

Marx' Begriff von Human- oder Wissenskapital ist aber vom heute geläufigen Begriff unterschieden. Unternehmer, Manager, Wirtschaftswissenschaftler verstehen unter Wissens- oder Humankapital die Fachkenntnisse und die persönlichen Veranlagungen, die für die Produktivität und die Konkurrenzfähigkeit einzelner Betriebe unmittelbar förderlich sind. Es gilt folglich, so genannte Freizeitaktivitäten in "Fortsetzungen der Arbeit mit anderen Mitteln" (Ernst Jünger) zu verwandeln. Dies geschieht unter anderem im Sport, von dem Jünger (1954) schreibt: Er "trägt ebenfalls Arbeitscharakter und zwar dadurch, dass er die freie Bewegung des Spieles dem Bann der Uhren und Rekorde unterwirft. Er bringt daher auch keine Erholung sondern setzt die Arbeit fort. Das tritt auch dadurch zu Tage, dass sich einerseits Messverfahren, andererseits Geldgeschäfte an ihn anschließen" [2].

Freizeit- und Unterhaltungsindustrie, Werbung und Marketing haben nicht eine bloß kommerzielle Funktion. Sie bestimmen Meinungen, Haltungen, Wertvorstellungen, Selbstbilder, Geschmack, Lust, Lebens- und Gefühlswelten, haben ihren direkten Zweck weniger darin, schreibt Robert Kurz, "zum Kauf bestimmter Waren anzureizen, sondern als allgemeine Formierung eines Bewusstseins (zu wirken), das die Form den "Sinn", die spezifische Ästhetik von "Reklame überhaupt" in sich aufgenommen hat und mit diesen Augen die Welt sieht"... "Emotionskontrolle", "Traumkontrolle", "Bewusstseinskonditionierungen": "Die Formatierung nicht nur der äußeren Wünsche und Begierden, sondern auch der Gefühle, der Griff nach dem Unbewussten enthüllt am deutlichsten den totalitären Charakter des Kapitalismus - und macht diesen Totalitarismus zugleich unsichtbar, soweit de Zugriff gelingt" (Robert Kurz, 1999, S. 571).

Die Kolonialisierung und Instrumentalisierung von "freier Zeit" wirkt einer Entwicklung entgegen, die die diversen Dimensionen von "Wissen" in eine umfassende Kultur einbetten und zur allseitigen Entfaltung der Individuen beitragen könnte. Der "totalitäre Freizeitkapitalismus", wie ihn Kurz nennt, verbindet nicht technisch-wissenschaftliche mit "künstlerischer etc." Bildung. Ganz im Gegenteil: Er bringt Individualitäten hervor, deren technisch-wissenschaftliche Bildung die Unbildung auf allen anderen Gebieten mit sich zieht. Er bewirkt den Verfall von Formen der Alltagskultur in denen "Wissen" als Gemeingut gesellschaftliche Beziehungen jenseits von Kauf- und Verkaufsbeziehungen beleben könnte. Kurz, er verhindert das Entstehen einer Wissensgesellschaft.

4. Herrschaft über Wissen. Wissensmonopole.

Marx dachte, dass "Wissen" und Wissenschaft sich als gesellschaftliches Gemeingut "in den Köpfen der Individuen akkumulieren" würden; und dass seine tägliche Anwendung im Produktionsprozess ein allgemeines Wissensniveau mit sich ziehen müsste, welches es dem Kapital verbieten würde, "Wissen" in seinen Privatbesitz zu überführen. Da "Wissen" tendenziell die wichtigste Produktivkraft ist, würde das Kapital die Kontrolle und das Kommando über die Produktion und ihre Weiterentwicklung verlieren. Dass die Fähigkeiten und Kompetenzen der Arbeitenden die vom unmittelbaren Produktionsprozess erforderten Fertigkeiten bei weitem übersteigen würden, was zur Folge hätte, dass die Individuen gegenüber ihrer "auf ein Minimum reduzierten" Arbeit auf Distanz gehen und ihre Auffassung von "Reichtum" sich grundlegend ändern würde.[3].

Die Produktion würde aufhören, der Hauptzweck der menschlichen Tätigkeiten zu sein, der Verwertungsprozess würde die sozialen Verhältnisse nicht mehr beherrschen. Der auf "Wissen" gegründete Produktionsprozess würde die Arbeits- und Produktionsgesellschaft am Ende zugunsten einer nicht-produktivistischen Kulturgesellschaft aufheben.

Für uns sind mittlerweile die Entwicklungs- und Aneignungsmöglichkeiten von "Wissen" viel komplexere politische Fragen geworden als sie es für Marx waren. Für uns ist die Annahme geradezu naiv, dass das Kapital die Entwicklung von "Wissen" als wichtigste Produktivkraft zulassen könnte, ohne selbst für die Aneignung von und die Herrschaft über "Wissen" zu sorgen. Das Wesen von Wissen, seine Inhalte, seine Verbreitung, seine Beziehung zur unmittelbaren Arbeit sind zentrale Konfliktstoffe geworden, in denen die Orientierung der gesellschaftlichen Entwicklung auf dem Spiel steht.Die sogenannte Informationsrevolution ermöglicht einen gigantischen Schritt weiter. Die bisher für den Produktionsprozess weiter erforderlichen menschlichen Fertigkeiten und Kenntnisse, ob manueller oder intellektueller Art, können zu einem rapide wachsenden Teil von den Menschen getrennt, in Software gespeichert und als Maschinen-Wissen wieder abgerufen werden..

Von hier ab stellen sich mehrere Fragen:

§ Um zu einer Wissensgesellschaft zu führen, müsste die bisherige Entwicklung nicht soziale Akteure hervorbringen, die sich jeder Form von Privatisierung, Patentierung und Monopolisierung von Wissen widersetzen, um es als universelles Gemeingut allen zugänglich zu machen? Gibt es diese Akteure?

§ Kann Wissen generell als Fundament einer Gesellschaft dienen und sie zusammenhalten, oder müsste man zwischen verschiedenen Arten von Wissen und von sozialen Wissensverhältnissen unterscheiden, die nicht in gleichem Ausmaß dazu geeignet sind, als Grundlagen einer Wissensgesellschaft zu dienen?

5. Wissen, Wissenschaft, Verwissenschaftlichung

Was meinen wir eigentlich, wenn wir vom "Wissen" in der "Wissensgesellschaft" sprechen? Schon bei Marx herrschte große Unklarheit. Er verwendet beliebig Ausdrücke wie "Wissen", "Intellekt", "Knowledge", "die allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes", "der allgemeine Stand der Wissenschaft". "Wissen" bezeichnet bei ihm oft die menschliche Fähigkeit, die Natur zu beherrschen und als Produktivkraft einzuspannen.Die szientistische Tradition, die oft bis heute noch den Marxismus und den Sozialismus prägen, lassen außer Acht, dass Wissenschaft, wie man sie in der industrialisierten Welt versteht, einen bestimmten sozialen und kulturellen Hintergrund voraussetzt. Wissenschaft verbürgt keine intuitiven Gewissheiten. Sie entwickelt sich vielmehr auf dem Boden vorwissenschaftlicher, sinnlich-praktischer Erkenntnisse und Erfahrungen. Sie wirkt auf diese - auf die "anschauliche Welt" oder "Lebenswelt", wie sie Husserl nannte - zurück und bezieht aus letzterer und auf letztere den Zweck und Sinn, dem sie dient [4].Man operiert nach Spielregeln, "im Wesentlichen nicht anders als im Karten- oder Schachspiel"[5].

Die Denkarbeit technisiert, formalisiert und mechanisiert sich, klammert Sinnfragen und den Bezug auf die sinnlich erfahrbare Wirklichkeit aus, nimmt "das Ideenkleid ‚Mathematik' und ‚mathematische Naturwissenschaft' ", das die Lebenswelt "vertritt und verkleidet"[6] , für "wahres Sein" und "entwertet die gesamten Wahrheiten des vor- und außerwissenschaftlichen Lebens, welche sein tatsächliches Sein betreffen"[7].

Eine auf die Ausschaltung der sinnlich erlebten Wirklichkeit und des sinnlichen Wahrnehmungsvermögens gegründete Wissenschaft erzeugt letzen Endes, wenn sich selbst überlassen, eine nur noch dem Intellekt zugängliche Technowelt.Der Sinn und erkenntnistheoretische Wert des wissenschaftlichen Wissens hängt folglich von seinem Zusammenhang mit und seiner Einbettung in die außerwissenschaftliche Lebenskultur ab. Wenn es sich gegenüber dieser verselbstständigt, entwickelt es sich auf Kosten der Lebenswerte und des Lebens selbst und "verarmt das Denken so gut wie die Erfahrung"[8].In gleicher Weise ist die verwissenschaftlichte Welt eine leblose, gefühllose, unnatürliche. Die moderne Wissenschaft hat von Anfang an von der Gesellschaft den Auftrag erhalten, die Gesetze der Natur zu erkennen und zum Zweck ihrer Beherrschung zu nützen. Die vollständige Kenntnis dieser Gesetze sollte Ungewissheiten und Unberechenbarkeit beseitigen, die Zukunft voraussehbar machen, die Welt ebenso "in Ordnung bringen" wie die Gesellschaft selbst. Bis heute drückt sich im Verwissenschaftlichungsdrang ein manischer Macht- und Ordnungswahn aus. Kybernetik, Informatik, Biotechnologien sollen die Störanfälligkeit menschlicher Wesen beheben, menschliche Intelligenz mit maschineller substituieren, natürliches biologisches Leben mit vorprogrammiertem Biomaterial, natürliches Erbgut mit künstlich vorbestimmtem, das sich nicht vererben lässt.

6. Von der Beherrschung zur Abschaffung der Natur

Der Wille, die Natur zu beherrschen, kippt um in den Willen, die Natur abzuschaffen, die "äußere" ebenso wie die "innere" menschliche, zu Gunsten einer durchrationalisierten, vorprogrammierten, sich selbst regulierenden Weltmaschine, die von Menschmaschinen und Maschinenmenschen vor natürlichen Abweichungen und subjektiven menschlichen Wertungen und Verhaltensweisen geschützt ist[9].

Die Frage, ob die bis zur Abschaffung der Natur getriebene Naturbeherrschung sich nicht zu einer Abschaffung der Menschheit selbst verkehrt, wurde von den Pionieren der künstlichen Intelligenz, der Robotik und der Nanotechnologien selbst aufgeworfen und in einem Aufsehen erregenden Artikel eines mit ihnen befreundeten Insiders, Bill Joy, erörtert[10].So vollzieht sich die Verwandlung von Naturschätzen in Privatkapital. Konzerne dekodieren das Genom von Pflanzen, um natürliches sowie naturbezogenes menschliches Wissen in wissenschaftliches zu verwandeln und dessen Alleinbesitzer und -verkäufer zu werden. Steriles patentiertes Saatgut ersetzt das natürliche, die Synthese pflanzlicher Wirkstoffe die natürlichen usw[11].

Verwissenschaftlichung ist die Voraussetzung der kapitalistischen Aneignung und Verwertung von natürlichem Gemeingut. Verberuflichung ist die Voraussetzung der Verwertung von allgemeinem informellem Wissen. Die Voraussetzung für den Aufbau einer Wissensgesellschaft hingegen ist, dass ein nicht-instrumentelles Verhältnis zur Natur der tendenziellen Verselbständigung der Technowissenschaft entgegenwirkt. "Wissen" darf nicht mit Sach- und Fachkenntnissen verwechselt werden. Verständnis für und ästhetische Wertung der Artenvielfalt des natürlichen Lebens gehören zum "Wissen" und müssen den technowissenschaftlichen Machtwillen überwiegen.

In den Naturwissenschaften ist eine Wende in diese Richtung seit einiger Zeit im Gange. Sie wurde ursprünglich eingeleitet von den im Biological Computer Laboratory arbeitenden Gründern der Systemtheorie und war für die Entwicklung der Ökologie entscheidend. Sie löst allmählich das Paradigma der analytischen "Erklärungen" durch das Paradigma des holistischen "Verständnisses" ab, begreift die Wirklichkeit als Komplexität, die nicht auf eine Verkettung von "Ursachen" reduzierbar ist. Zwischen den auf die Beherrschung der Natur ausgerichteten Technowissenschaften und den lebensfreundlichen "verstehenden" Wissenschaften, zwischen der "Allotechnik" und der "Startotechnik", wie Sloterdijk sie nennt, ist ein Konflikt angesagt, der letzten Endes auf der politischen Ebene ausgetragen werden muss.

7. Konfliktstoff Erziehung, Schule, Bildung

"Wissen" bedeutet stets zweierlei:

1.Kenntnisse, die der Wissende vorsätzlich und methodisch erlernt hat. Es handelt sich hier um formelles, soziales Wissen, das die Individuen nicht aus eigenen Erfahrungen und Interaktionen erwerben konnten. Es ist Teil der akkumulierten Kenntnisse und Deutungsmuster, die im Laufe der Geschichte in die Kultur eines Volkes aufgenommen wurden. Der Lernprozess und die Inhalte des formellen sozialen Wissens sind vom öffentlichen Unterrichtswesen und den öffentlichen kulturellen Medien bestimmt.

2.Vorverständnisse und Fähigkeiten, die wir spontan durch Erfahrungen und den Verkehr mit anderen erworben haben, ohne sie je thematisiert und vorsätzlich gelernt zu haben. Sprechen, die Umwelt und ihre Gegenstände deuten und handhaben, die Metasprache der Gesichtsausdrücke und Gesten verstehen usw., all das haben wir nicht absichtlich erlernt. Wir sind in eine soziale Lebensumwelt hineingewachsen und haben ihre Sprache sowie die Handhabung ihrer täglichen Gebrauchsgegenstände durch eben deren Handhabung gelernt. Informelles Wissen besteht zu einem großen Teil aus Gewohnheiten und Fertigkeiten, durch welche wir die soziale Umwelt als eine Verlängerung unseres Körpers, unserer selbst wahrnehmen. Dieses präkognitive informelle Wissen ist der Stoff unseres Bewusstseins, die soziale Basis, auf der die sinnliche, psychische und intellektuelle Entfaltung der Person sich vollzieht. Es kann diese Entfaltung begünstigen oder hemmen. Von ihr hängen weitgehend sowohl die Sozialisierbarkeit wie die Autonomiefähigkeit des Individuums ab [13]. Die sozialen und ökonomischen Verhältnisse werden vom Kapital angesichts des Rückgangs des regulären Lohnarbeitsvolumens in einer Weise gestaltet, die den Erwerbsarbeitszwang verschärft. Diese Verschärfung hat ihren - nicht offen ausgesprochenen - Grund in der Befürchtung, dass die sich vollziehende Ausdehnung der Nicht-Arbeitszeit den Arbeitsethos und die Herrschaft des Kapitals untergraben würde, wenn Mußefähigkeit und Tätigkeiten, die um ihrer selbst willen unternommen werden, ermöglicht würden und sich entsprechend entwickelten. Die Komplementarität von vielseitiger Bildung und unmittelbar produktivem Wissen ist im sich vollziehenden technologischen Wandel wie vorprogrammiert. Das sich verwandelnde Kapital eröffnet die Aussicht auf eine Wissens- und Kulturgesellschaft, bekämpft aber zugleich deren Entwicklung, um seine Macht zu bewahren. Widersprüchlichkeiten dieser Art sind nichts Neues. Neu allerdings ist diese Aussicht selbst - ist die im Wesen des "Wissens" enthaltene Möglichkeit grundlegend neuer sozialer Verhältnisse jenseits von Waren- und Lohnbeziehungen.

8. Bildungspolitik in der Wissensgesellschaft

Je selbstverständlicher ein Wissen ist, um so unmöglicher ist es, es zu vermitteln. Es ist weder thematisiert noch versprachlicht. Es besteht aus Vorverständnissen, die sich auf einen kulturellen Hintergrund beziehen, der Kenntnissen und Erkenntnissen zugrunde liegt. Selbstverständliches Wissen lässt sich weder erklären noch mitteilen. Ich kann es nur durch ein beziehungsintensives Verhältnis vermitteln, welches es anderen ermöglicht, nachzuvollziehen, was ich meine und tue, weil sie Erfahrungen mit mir teilen. Angehörigen einer Kultur ist dasselbe Vorverständnis gemeinsam. Es kann nie vollständig in andere Kulturen übertragen werden"Wettbewerb" dient nicht dazu, die Schwächeren auszuscheiden, sondern es jedem zu erlauben, sein Können an dem der anderen zu messen und das gemeinsam zu erreichende Niveau womöglich zu erhöhen.Eine Gesellschaft, in der alle von jedem erwarten, dass er oder sie ihre künstlerischen, sinnlichen, kognitiven usw. Fähigkeiten weiterentwickelt und dafür die Mittel, Gelegenheiten und menschliche Unterstützung bereitstellt, steht in radikalem Gegensatz zu einer von Leistungs- und Verwertungszwang beherrschten Gesellschaft, ist aber dennoch in der gegenwärtigen Entwicklung potenziell angelegt.

9. Selbstentwicklungsarbeit                                                              

Die sich entwickelnde Netzwerk- oder "quaternäre" Ökonomie beruht auf miteinander vernetzten Unternehmen und Territorien. Jedes Unternehmen ist territorial mit komplementären Unternehmen vernetzt und das territoriale Netzwerk mit anderen in transterritoriale oder globale Netzwerke eingebunden. Die Produktivität der Unternehmen hängt weitgehend von den kooperativen und kommunikativen Kompetenzen der Akteure ab, ihrer Fähigkeit, eine Situation zu überblicken, schnell zu urteilen und zu entscheiden, für neue Ideen offen zu sein, neue Kenntnisse zu erwerben. Die Produktion und Produktivität beruhen auf "Leistungen", die nicht mehr mit dem Maßstab der Arbeitszeit messbar sind. Sie mobilisieren ein "Wissen", das sowohl aus Fachkenntnissen als auch aus informellen persönlichen Fähigkeiten besteht. Das bedingungslose Recht auf Bildung, Weiterbildung, Zugang zu allem Wissen kann allein in Verbindung mit dem bedingungslosen Recht auf ein ausreichendes Grundeinkommen oder "Existenzgeld" effektiv werden.

10. Jenseits von Markt, Geld und Eigentum

Menschliche Selbstentwicklung ist nicht eine Quelle des Reichtums und ein Mittel unter anderen zur Schöpfung von Reichtum. Sie ist die Schöpfung von Reichtum selbst, Reichtum an Fähigkeiten, Genüssen, Kreativität, Lebendigkeit... . Es handelt sich hier um einen Reichtum, der an keinem vorgegebenen Maßstab messbar ist, dessen "Wert" nicht quantifiziert, vergeldlicht und verrechnet werden kann. Selbstentwicklungsarbeit ist nicht auf ein Quantum "einfacher", "abstrakter" Arbeit reduzierbar, noch vergleichbar und austauschbar mit anderen Arbeiten. Sie gilt sich als Selbstwert und Quelle von Selbstwerten, wirkt aber zugleich als Quelle von Produktivkraft im sozialen Produktionsprozess. Sie schärft die Aufmerksamkeit für alle nicht miteinander austauschbaren, nicht messbaren Formen des Reichtums, die ebenfalls nicht gegeneinander verrechnet werden können: namentlich die Natur, die vom ökonomischen Standpunkt aus Produktivkraft, vom ästhetischen Standpunkt aus Selbstwert und vom sozialen Standpunkt aus Gemeingut ist. Das Gleiche kann für die verschiedenen Formen von Wissen gesagt werden.

Aus zwei Gründen darf man diese Ausführungen nicht einfach belächeln:

1.Die "Linux-Gemeinde" wurde gegründet, um das Monopol des von den Börsen und Regierungen weltweit umworbenen Bill Gates zu brechen. Es galt, den zahlungspflichtigen patentierten Microsoft-Zugang zum Internet mit einem kooperativ entwickelten und kostenlos verwendbaren Navigationsystem zu bekämpfen. Dies ist der "Linux-Gemeinde" gelungen. Ihr System hat die Überlegenheit der "freien" kooperativ entwickelten Software bewiesen, aber auch alle Welt darauf aufmerksam gemacht, dass um Wissen finanziell zu verwerten, das Kapital es als privates Eigentum behandelt und als Ware vermarktet. Dieser Wissenskapitalismus führt zu keiner Wissensgesellschaft.

2.Gegen den Wissenskapitalismus sind nicht blauäugige Utopisten ins Feld gezogen, sondern angehörige der "Wissenselite", d.h. Leute, die über die wichtigsten Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Ein radikal-libertärer Antikapitalismus kommt "von oben" her, ohne jeglichen Machtanspruch, von Inhabern des "Wissenskapitals", das sie im Namen der Freiheit dem Zugriff des Geldkapitals entziehen wollen. Sie verfolgen dasselbe Ziel, das früher im Klassenkampf erreicht werden sollte: nämlich "die kollektive Aneignung der Produktionsmittel", die Sozialisierung der Produktivkräfte. Sie säen die Samen eines neuen Links-Radikalismus, der selbstverständlich nur Grund gewinnen kann, wenn er - wie in Seattle - alle diejenigen verbinden und verbünden kann, die gegen die vom globalen Finanzkapital betriebene Globalisierung einen globalen Kampf für eine alternative Globalisierung führen.

Fußnoten:

 [1] Das Zeitalter des Access. Die neue Kultur des Hyperkapitalismus, in der alles Leben aus eingekauften Erlebnissen besteht. Titel der deutsche Ausgabe: Jeremy Rifkin, Access. Das Verschwinden des Eigentums. Warum wir weniger besitzen und mehr ausgeben werden. Frankfurt/M., 2000.

 [2] Ernst Jünger, Das Sanduhrbuch, FfM 1954, S. 194 f. Zitiert in Robert Kurz, Schwarzbuch des Kapitalismus, Eichborn, FfM. 1999, S. 569.

 [3] Vgl. Karl Marx, Grundrisse..., S. 387: "Wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anderes, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen?... Das absolute Herausarbeiten (ihrer) schöpferischen Anlagen, ohne andere Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d.h. der Entwicklung all der menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebenen Maßstab, zum Selbstzweck macht?"

 [4] Edmund Husserl, Die Krise der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Philosophie, Philosophia, Belgrad, 1936, § 9 h), S. 125.

 [5] a.a.O., § 9 g), S. 121.

 [6] a.a.O., § 9 h), S. 127.

 [7] a.a.O., § 9 i), S. 129. [8] Vgl. Adorno/Horkheimer, Dialektik der Aufklärung und, ausführlicher, A. Gorz, Kritik der ökonomischen Vernunft, Hamburg, 1989/1994, s. 126 ff. [9] Vgl. Arno Bammé u.a., Maschinen-Menschen, Mensch-Maschinen, Grundrisse einer sozialen Beziehung, Reinbek, 1983, S. 69 ff.

 [10] Ray Kurzweil, The Age of Spiritual Machines, Phoenix, London, 1999; Hans Moravec, Mere Machine to Transcendent Mind, Oxford University Press, New York, 1999; Bill Joy, Why the Future Doesn't Need us, Wired 8.04, April 2000.

 [11] Vgl. Dan Schiller, in Cutting Edge, London, Verso, 1996, S. 116: "in biotechnology the effort revolves around supplanting a ‚text' with the inborn capacity to reproduce itself without human intervention with one that is sterile and therefore cannot."

 [12] In Schweden haben beide Elternteile zusammen ein Anrecht auf ein Jahr Erziehungsurlaub für jedes Kind, mit 80 % (früher 90%) Lohnausgleich. In der ehemaligen CSSR waren für Mütter drei Jahre Erziehungsurlaub mit vollem Lohnausgleich die Regel.

 [13] Pierre Lévy, World Economy, Odile Jacob, Paris 2000, S. 82 ff.