Ôèëîñîôñêèå íàóêè/2. Ñîöèàëüíàÿ ôèëîñîôèÿ
Sintschenko V.V.
DIE POSTMODERNEN TENDENZEN DER GLOBALEN ENTWICKLUNG WIE DIE FORM DES MODERNEN
NACHIMPERIALISMUS
Der Gesichtspunkt, den
ich diskutieren möchte, betrifft zwei zusammenhängende Aspekte: den
konstitutionellen Irrationalismus der
imperialistischen Gesellschaft und
das postmoderne
Bewußtsein als seine «modernste», auf heutigem Niveau «avancierteste»
Gestalt. In diesem Zusammenhang
ist das postmoderne Bewußtsein noch genauer
in den Zusammenhang gegenwärtiger
Gesellschaft zu stellen als bisher geschehen, ist der Ort zu bestimmen, an dem
es ideologiegeschichtlich steht. Es geht also um zweierlei: 1. den Konnex von
Irrationalismus und imperialistischer Gesellschaft, 2. Ort und Funktion der
Postmoderne in diesem Zusammenhang.
Im Anschluß an den
marxistischen Philosophien verstehe ich die Postmoderne als
Bewußtseinsform einer bestimmten Stufe der kapitalistischen Gesellschaft:
der entwickelten imperialistischen Gesellschaft; Bewußtseinsform also des
Weltzustands der Gegenwart, bezogen auf die imperialistischen Metropolen. Die
Postmoderne ist Bewußtseinsform dieses Weltzustands in einem umfassenden
Sinn. Sie geht, als Erfahrungsform alltäglicher Entfremdung, aus Alltag
und Lebensweise hervor, reicht
in Kulturindustrie, Medien,
Künste, Wissenschaften und
«große» Theorie hinein, ja hat in diesen (mit der Ausnahme der
Naturwissenschaften) oft den Status einer Dominanz. Das Zentrum postmodernen
Bewußtseins ist der zivilgesellschaftliche Bereich, seine theoretisch
avancierteste Verarbeitungsform die poststrukturalistische Theorie, mit
Schwerpunkten in Europa (Frankreich) und den USA.
Als Bewußtseinsform ist
die Postmoderne ubiquitär; ubiquitär im Hinblick
auf die Metropolen des imperialistischen Systems. In diesen repräsentiert
sie, sie nicht allein, aber doch
als dominante ideologische Macht, das
Bewußtsein des Ensembles gegenwärtiger
gesellschaftlicher Verhältnisse.
In einer Arbeit Seppmanns
zum Begriff herrschenden Denkens findet sich der Schlüssel, mit dessen
Hilfe diese Fragen theoretisch gelöst werden können. So notiert
Seppmann, im Anschluß an Überlegungen Leo Koflers, einen
fundamentalen Widerspruch innerhalb des gegenwärtigen
Alltagsbewußtseins. Die Alltagsorientierungen, argumentiert er, besitzen
einen «Doppelcharakter». Sie sind nicht einfach nur «falsches
Bewußtsein», sondern zugleich auch Gedankenformen, «mit denen die
Menschen ihr Leben bewältigen». Sie ermöglichen die Orientierung in
einer begrenzten Praxiskonstellation,
blenden dabei aber
das gesellschaftliche Ganze
notwendig aus. Dieser
«Umschlag von
individueller Rationalität in soziale Irrationalität» hat sein
formationsspezifisches Äquivalent in dem Widerspruch, der den entwickelten
Kapitalismus als ganzen auszeichnet. Als Vergesellschaftungsweise hat dieser
«die Rationalität in den Teilbereichen extrem gesteigert (...), das
Zusammenspiel der technischen wie auch der sozialen Kräfte aber dem blind
produzierten «Zufall
überantwortet». Er bringt
deshalb «permanent Entfremdung und verzerrte Bewußtseinsformen hervor».
[Seppmann, 171] Seppmann verweist
damit auf einen fundamentalen Widerspruch, der den Kern der
gegenwärtigen imperialistischen Gesellschaft, ja das Ensemble ihrer
gesellschaftlichen Verhältnisse betrifft: der enormen Steigerung von
Partialrationalitäten steht die Irrationalität des Ganzen dieser
Gesellschaft ohne Vermittlung gegenüber.
Es ist dies eine Einsicht
strukturell grundlegenden Charakters. Da aus ihr nähere Bestimmungen
gerade auch für die Kultur und die Bewußtseinsformen der
gegenwärtigen Gesellschaft folgen, bildet sie den geeigneten Einsatzpunkt
für die geforderte weiterführende Überlegung.
Die Diagnose der
«Irrationalität» der imperialistischen Gesellschaft ist, für sich
selbst genommen, nicht neu. Die «zunehmende Irrationalität des Ganzen»,
bezogen auf die gegenwärtige Gesellschaft, wird schon von Herbert Marcuse
konstatiert [Marcuse, 263], und auch Adorno spricht von der «Irrationalität der
bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase», die «widerspenstig
dagegen» sei, «sich begreifen
zu lassen» [Adorno, 192]. Wolfgang Fritz Haug sieht den «transnationalen
High-Tech-Kapitalismus» der Gegenwart als «Epoche einer global gewordenen Irrationalität,
die aus dem Getriebe von Myriaden gegeneinander operierender particular
interests resultiert» [Haug 2003, 64]. Das Grundproblem wurde bereits von Georg Lukács in
«Geschichte und Klassenbewußtsein» [1923] herausgearbeitet. Lukács
setzt dort der Zweckrationalität der einzelnen Teilbereiche die auf der
Anarchie des Marktes beruhende Irrationalität des Gesamtprozesses
entgegen. Der «ganze Aufbau der kapitalistischen Produktion» beruhe auf der
«Wechselwirkung von streng gesetzlicher Notwendigkeit in allen
Einzelerscheinungen und von relativer Irrationalität des Gesamtprozesses»,
die «wahre Struktur der Gesellschaft erscheint (...) in den unabhängigen,
rationalisierten, formellen Teilgesetzlichkeiten» [Lukács, 277]. Diese
Auffassung behauptet die Irrationalität des Ganzen nicht nur für den
Imperialismus, sondern für die bürgerlich- kapitalistische
Gesellschaft als Gesamtformation. Auch Haugs Ausführungen zur
«Irrationalität des Kapitalismus» in dem jüngst erschienenen Band
6/II des «Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus» arbeiten das
Irrationale als Moment der ökonomischen Formbestimmungen der gesamten
kapitalistischen Produktionsweise heraus. Marx weise im «Kapital», so Haug, an
den ökonomischen Formbestimmungen «die durchgängige
Irrationalität auf», bei der Warenform bzw. Wertform wie «im Ganzen der
kapitalistischen Ökonomie». Mit Blick auf Rosa Luxemburgs
Imperialismustheorie legt er den Gedanken nahe, daß der Potenzierung der
Widersprüche im Imperialismus die Potenzierung des Irrationalen in allen
Bereichen der Gesellschaft entspricht.
Es ist dies der für
mich entscheidende Gesichtspunkt: Daß die im grundlegenden
Kapitalverhältnis angelegte Irrationalität erst unter den Bedingungen
seiner vollen Entfaltung – also im Imperialismus – eine das Ensemble der
gesellschaftlichen Verhältnisse (im genauen Marxschen Sinn des Begriffs)
determinierende Kraft erhält, die konstitutive Dominanz des Irrationalen
damit erst für den Imperialismus und so auch in Differenz zu früheren
Formen der Kapitalgesellschaft zu behaupten ist. So sehr das Irrationale dem
Kapitalismus von Beginn an innewohnt, erst im Imperialismus erreicht es eine
Qualität, die, weit über die ökonomische Struktur hinaus, die
Gesellschaft als ganze betrifft, ihre lebensweltlich-kulturelle Wirklichkeit,
ihre staatlich-politische Konstitution und ihre Bewußtseinsformen. Erst
jetzt kann von einem konstitutionellen Irrationalismus dieser Gesellschaft als
Formation gesprochen werden; konstitutionell bezogen auf ihre grundlegende
Verfaßtheit.
Konstitutioneller
Irrationalismus heißt freilich nicht (wie es Adorno behauptet hat),
daß die imperialistische Gesellschaft keine «ratio» mehr habe, nach der
die Kritik ihrer politischen Ökonomie geschrieben werden könnte. Es
heißt vielmehr, daß ihre «ratio» in der – gesellschaftlich begründeten und deshalb auch
gesellschaftlich erklärbaren – Dominanz des Irrationalen, im Mangel einer
gesamtgesellschaftlichen Rationalität bei Zunahme von Rationalität in
den Teilbereichen, in dem auf die Spitze getriebenen Widerspruch zwischen
Partialrationalität und Irrationalität des Ganzen besteht. Im
Unterschied zur Aufstiegsphase des Kapitalismus als historischer Formation, in
der rationales Handeln in einem gesamtgesellschaftlichen Sinn Bedingung
zivilisatorischen Fortschritts war (die bürgerlichen Revolutionen
wären ohne ein die gesamte Gesellschaft betreffendes Konzept, ohne die
gesamtgesellschaftliche Zielsetzung der Agierenden gar nicht möglich
gewesen), ist in der gegenwärtigen Phase dieser Formation jede
gesamtgesellschaftliche Rationalität, die mehr ist als eine den Interessen
des Profits gehorchende Logik der Unterwerfung, eliminiert. Eine solche Logik
ist zwar der globalen Herrschaft fähig, doch keiner Rationalität, die
das Ganze im Interesse der Gattung vertritt. So hält der globalen
Expansion des Kapitals keine globale Vernunft die Waage, und kein Weltgeist
zeigt sich, der den Mechanismus dieser Expansion zu einem sinnvoll Allgemeinen
zu wenden vermag.
Zur Irrationalität
des Ganzen gehören die zerreißenden, für die imperialistische
Gesellschaft selbst potentiell letalen Widersprüche, die die
Produktivkraftentwicklung des globalen Kapitals begleiten. Einer dem
Anschein nach grenzenlosen Erweiterung
wissenschaftlicher Rationalität und,
im Verbund damit, historisch beispiellosen Steigerung technologischer
Produktivkräfte steht die Zerstörung massenhafter Potentiale
menschlicher Produktivkraft gegenüber: die Reduktion der menschlichen
Arbeitskraft auf primitivste zivilisatorische Stufen. Der Vorgang solcher
Zerstörung betrifft heute die große Mehrheit der
Weltbevölkerung. Hand in Hand geht damit eine Vernichtung kultureller
Vermögen, die in der Geschichte ohne Beispiel ist. In Jahrtausenden
gewachsene Fähigkeiten kultureller Produktion werden in kürzestem
Zeitraum obsolet; eine Obsolenz, die durch keine neuen Qualifikationen ersetzt
wird. Steht auf der einen Seite eine von einer kleinen Gruppe von Experten des
szientifisch-technologischen Sektors betriebene, an die Kapitalakkumukation
geknüpfte, vom Kapital kontrollierte technologische
Produktivkraftentwicklung von singulärer Qualität, so auf der anderen
die millionenfache Auslöschung menschlicher Arbeitsvermögen, die
massenhafte Annihilation kultureller Schöpferkraft.
Proportional zur
Steigerung der szientifisch- technologischen Produktivkräfte, dies ist als
Gesetz des entwickelten Imperialismus festzuhalten, steht die Reduktion des
Produktivkraftvermögens eines zunehmend größer werdenden Teils
der Weltbevölkerung. Dem entspricht
die Proportion von
Reich und Arm
in globalem Maßstab. Während ein kleiner Teil
der Menschheit über unermeßlichen Reichtum verfügt, begonnen
hat, den Kosmos zu erobern, vom «Zeitalter der künstlichen Intelligenz
(träumt), in dem die Maschine ein eigenes Bewußtsein erhält» [Schirrmacher,1)
und sich mit Fragen unbegrenzter Lebensverlängerung als historischen
Schicksalsfragen zu befassen beginnt, versinkt die Masse der
Erdbevölkerung in Elend und archaische Unwissenheit, werden ganze
Kontinente von Hunger, Krieg und Seuchen verheert, kehren mit den neuen
Schrecken die alten zurück. Die technologischen Produktivkräfte
selbst sind in vielen Fällen von Instrumenten des Fortschritts zu solchen
der Weltzerstörung geworden, die kühnsten Erfindungen der
menschlichen Vernunft zu Monstren der Massenvernichtung. Eine Situation ist
eingetreten, in der, mit den Worten von Bertolt Brechts Galilei, der
«Jubelschrei» der Wissenschaft «über irgendeine neue Errungenschaft von
einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte» («Leben des
Galilei», 14. Bild).
Deformiert sind
nicht nur die
Anwendungen
wissenschaftlicher
Erfindungen unter den Bedingungen des Imperialismus,
deformiert ist die technologische Rationalität selbst, die seiner
Produktivkraftentwicklung zugrunde liegt. Sie steht unter dem
uneingeschränkten Diktat des Tauschwerts, dem sie sich nirgendwo – und
wenn, dann nur scheinbar – entziehen kann. Sie ist eingebunden in die
Zwänge verwertungsorientierter Veränderung und permanenter
Innovation, untersteht einem Konkurrenzkampf, der weder begrenzbar noch berechenbar ist.
Solcher Rationalität
wohnt das Irrationale, wohnen Widersinn und
Deformation als strukturierende Momente inne – so sehr es gerade
zu den Illusionen der technologischen Vernunft gehört zu meinen, daß
sie unter kapitalistischen Bedingungen dem Irrationalen entkommen kann.
Dem technologischen
Fortschritt entspricht proportional der Prozeß progredierender Re-
Barbarisierung. Sein Analogon hat die Zerstörung der kulturellen
Ressourcen in der Zerstörung der Ressourcen der Natur. In die
Zerstörung hineingerissen ist der Stoffwechsel von Mensch und Natur: die
Basis aller Kultur. Damit aber gerät der gesamte Prozeß der
Zivilisation in die Krise. Zu konstatieren ist die «Agonie ganzer Kontinente» [Seppmann].
Die Elendszonen der Erde reichen heute
in die Zentren der Metropolen,
so in die urbanen Elendszonen
US-amerikanischer, mittlerweile auch europäischer
Großstädte hinein. Solchen Gründen entsteigen die bekannten und
neuen Gestalten der Gewalt, der Aggression und des Hasses, entsteigen
Rassismus, Sexismus, Sadismus, die Disposition zu Terror und Krieg. Der
Imperialismus ist Zustand permanenten Kriegs, aktuell oder potentiell. Er ist
«Epoche der Kriege und Revolutionen» (Lenin), was auch dort gilt, wo die
Revolutionen gescheitert sind. Zu Recht nennt ihn Peter Weiss die «höchste
Form der Brutalität».
Der Imperialismus in
seiner entwickelten, gegenwärtigen Gestalt ist Zeitalter einer Krise von
weltgeschichtlicher Dimension. In ihr steht eine menschenwürdige Zukunft,
ja die Fortexistenz der menschlichen Gattung auf dem Spiel. Er ist Zeitalter
einer krisengeschüttelten Endzeit. Sehr genau hat Antonio Gramsci den
Charakter dieser Krise und das mit ihr verbundene historische Dilemma
erfaßt, wenn er in den «Gefängnisheften» notiert, die Krise bestehe
genau in der Tatsache, daß das Alte stirbt und das Neue nicht geboren
werden kann; in diesem Zwischenreich trete eine Vielzahl krankhafter Symptome
hervor. Der Gebrauch einer pathologischen Metapher geschieht nicht
zufällig: Die Krise hat den gesamten Körper dieser Gesellschaft
erfaßt. Sie ist nicht lokal, sondern universal, weil sie Ausdruck
konstitutiver Widersprüche des Imperialismus selbst ist. Sie ist
potentiell letalen Charakters und formuliert ein historisches Dilemma: Das Alte
stirbt und das Neue kann noch nicht geboren werden. In diesem Zwischenreich
tritt eine Vielzahl morbider Symptome hervor. In der Tat hat die
«Morbidität» der imperialistischen Gesellschaft heute einen Umfang und
eine Drastik erreicht, die kaum noch der empirischen Belege bedarf und den
Gedanken eines universalen Entfremdungszusammenhangs, wie ihn Adorno und
Horkheimer in ihrer späten Phase vertraten, für die imperialistischen
Metropolen verständlich werden läßt; in einer Weise, daß
begründet von einer pathischen Gesellschaft – einer «Kultur des Todes» –
gesprochen werden kann.
Zum konstitutionellen
Irrationalismus der gegenwärtigen imperialistischen Gesellschaft
gehört, daß diese weder zu fundierter Selbsterkenntnis – einer
umfassenden Theorie ihrer selbst – noch zu einem die Gesamtgesellschaft
betreffenden ökonomischen und politischen Handeln mehr in der Lage ist.
Gehandelt wird nach Maßgabe ökonomischer bzw.
politisch-ökonomischer Partialinteressen. Das Resultat ist die Zunahme –
nicht der Abbau – der dem Imperialismus innewohnenden Widersprüche. Dieser
erweist sich als unfähig – nicht zufällig, sondern konstitutionell –
auch nur ein einziges der die Menschheit heute bedrohenden Probleme zu
lösen: Hunger, Krankheit, Verelendung, Krieg und Gewalt, Ungleichheit und
Ausbeutung, die Zerstörung der Natur. Ja, er erscheint mehr und mehr
außerstande zur Lösung auch von Problemen, die im Grunde in seinem
ureigenen Interesse liegen. Darin liegt das eigentlich Gefährliche.
Zunehmend verliert der Imperialismus die Fähigkeit zu seiner eigenen
gesamtgesellschaftlichen Reproduktion. So
nimmt er zu
Handlungen seine Zuflucht,
deren Folgen er
im vollen Umfang
weder einzuschätzen noch zu kontrollieren vermag. Der Imperialismus
untergräbt damit tendentiell seine eigene
Reproduktion. Er produziert
ständig seine eigenen
Totengräber, auch wenn
diese Totengräber,
anders als das klassische Proletariat, kein Bewußtsein ihres historischen
Orts mehr besitzen und zunehmend zu Mitteln selbstzerstörerischen
Widerstands ihre Zuflucht nehmen. D.h., der Imperialismus erzeugt seine
Negation in der Form einer Gegnerschaft, die selbst vom Irrationalen gezeichnet
ist, meist planlos und fanatisiert zurückschlägt. Auf die
Irrationalität des Widerstands reagiert der Imperialismus wiederum in
einer Spirale eskalierender Gewalt, deren Ende nicht absehbar ist, die ein
katastrophisches Finale befürchten läßt. Die globale Herrschaft
des imperialistischen Kapitals ist sicher vorstellbar, doch nicht anders denn
als Herrschaft des Schreckens. Wenn das Kapital, wie Marx in seiner
Hauptschrift sagt, «von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und
schmutztriefend» zur Welt gekommen ist [MEW, Bd. 23, 788], so wird es in keiner
anderen Gestalt die
Welt auch wieder
verlassen. Die Gefahr
besteht, daß es
die gesamte menschliche Zivilisation
in seinen Untergang hinein reißt.
Es gibt also gute
Gründe – eine Reihe von Gründen, – vom konstitutionellen Irrationalismus des
Imperialismus als gesellschaftlicher Formation zu sprechen.
Der Irrationalismus ist Bewußtseinsform des Imperialismus
in einem notwendigen Sinn; notwendig, weil mit dem Daseinsgesetz dieser
Gesellschaft unlösbar verbunden. Er ist der bewußtlose Ausdruck der
Irrationalität gegebener gesellschaftlicher Verhältnisse. Diese
produzieren Irrationalismus als das ihnen gemäße Bewußtsein.
Sie produzieren solches Bewußtsein auf allen Ebenen und in allen
Gestalten des Bewußtseins, die diese Gesellschaft hervorbringt. Der
Irrationalismus ist also in einem bestimmten Sinn die dieser Gesellschaft
angemessene Vernunftform, ihre adäquate ideologische Gestalt. Er ist der
Geist geistloser Zustände, die Vernunft einer widervernünftigen Welt.
In diesem spezifischen Sinn aber ist er nicht nur Ausdruck von Unwahrheit,
sondern er vermag auch, unter bestimmten Bedingungen und in bestimmter Form,
Wahrheit zu verkörpern. Das bedeutet, der Irrationalismus ist in
bestimmten Grenzen wahrheitsfähig. Seiner kritischen Geschichtsschreibung
kann es deshalb nicht nur um den Nachweis seiner Unwahrheit, sondern muß
es zugleich auch um das Ausarbeiten seiner Wahrheit gehen.
Der Irrationalismus ist
die adäquate Vernunftform der imperialistischen Gesellschaft im Sinn
expliziter wie impliziter Ideologien, also im Sinn ihres allgemeinen
gesellschaftlichen Bewußtseins. Er durchdringt alle
Bewußtseinsformen, die diese
Gesellschaft hervorbringt: vom Alltagsbewußtsein über die
Kulturindustrie bis in Kunst, Wissenschaft und große Theorie. Er
entspricht damit der strukturellen Verfaßtheit dieser Gesellschaft auf
allen ihren Ebenen Er geht aus ihren Alltagserfahrungen organisch hervor; in
einer solchen Weise, daß von der Emergenz des Irrationalen in dieser
Gesellschaft gesprochen werden muß. Das bedeutet: auf der Ebene der Erfahrung
ergibt sich die Widervernunft «wie von selbst». Sie ist tägliche Erfahrung
des Bewußtseins, die auch dem Urteil des common sense ungebrochen
zugrunde liegt. Sie ist der Dünger, in dem die expliziten Ideologien des
Irrationalen prächtig gedeihen, und es bedarf der größten
Anstrengung des Begriffs, diesen aus der Erfahrung stammenden Schein zu
durchbrechen. Eine rationale Welterklärung heute schwimmt nicht nur gegen
den Strom der Zeit, sie hat mit dem Geist der Zeiten auch den Schein der
Tatsachen gegen sich. Sie ist dem ideologischen Schein der imperialistischen
Gesellschaft abzuringen.
Literaturverzeichnis:
1. Adorno Th. W. Noten zur Literatur II. - Frankfurt
a. M., 1961.
2.Haug W. F. High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität,
Krieg und Hegemonie. – Hamburg, 2009.
3.Lukács G. Geschichte und Klassenbewußtsein. – Neuwied,1968.
4. Marcuse H. Der eindimensionale Mensch. Studien zur
Ideologie der fortgeschrittenen
Industriegesellschaft. - Neuwied und Berlin, 1967.
5.Schirrmacher F. (Hg.).Die Darwin AG. Wie Nanotechnologie, Biotechnologie
und Computer den neuen Menschen träumen. – Köln, 2001.
6.Seppmann Werner, Was heißt heute herrschendes Denken‹? In: C.
Jünke (Hg.). Am Beispiel Leo
Koflers. Marxismus im 20. Jahrhundert. - Münster 2011. – S. 165-181.